Tagebuch der Apokalypse von Michael Grill.

CCA-Mitglied Michael Grill, 38, Creative Director & Texter bei Hello Wien über das Leben und Überleben im Frühling 2020 zwischen Sorglosigkeit, Panik, Wahnsinn, Wimmelbüchern und Großeinkäufen.


 

Tagebuch der Apokalypse, Tag 1

Mit schwarzen Putzhandschuhen und Baumwollwindel vor dem Mund gehe ich um 7.25 Uhr über den Garten und den Wirtschaftsweg zum BILLA. Blätter im Wind, Schritte, sonst nichts. Dead Man Walking. Ein letztes Mal. Zwei Desinfektionstücher, die Bankomatkarte und eine Münze für das Wagerl in der Tasche. An alles gedacht. Auf die 20.000 Jös, die ich heute verdienen könnte, wird gepfiffen. Ich kontaminiere mein Smartphone nicht für 20 % auf Joghurt und Chips. Ein Mann wartet bereits vor der Glastüre, durch die ich den jungen Mitarbeiter beim Einräumen der Semmeln beobachten kann. Kurzer Augenkontakt, der ewig scheint. Ich sehe die Augen der Kühe in den Schlachthöfen aus den Peta-Dokus, die Augen von Menschen am Schafott, Outbreak. “Die Erwartung des Todes ist schlimmer als der Tod selbst.”, sagte einst Steven Seagal in “Hard to kill”. Ich frage den rauchenden Mann, der als einziger vor mir da war, aus 6 Metern Entfernung nach der Uhrzeit. Er ignoriert mich. Eine Antwort könnte ihn anstecken. Das verstehe ich natürlich und frage nicht nochmal. Dann überlege ich, ob ich auch eine rauchen soll. Aber die Rillen am Feuerzeug könnten meine Plastikhandschuhe perforieren. Und Lungenkrebs kriegt man auch noch, fällt mir ein. Besser nicht.

Ein älteres Ehepaar kommt, als wäre alles wurscht und heute einfach Montagmorgen. Der Mann, Risikogruppe 1, berührt bei der Auswahl des richtigen Einkaufswagens mehrere Griffe und entscheidet sich schließlich für ein Modell. Ein Connaisseur also. Kurze Bewunderung ob der inneren Ruhe und Gleichgültigkeit, dann hab ich wieder den Bericht aus Italien im Kopf. Und dann denk ich mir, deppert, wenn du den Weltkrieg und Tschernobyl überlebst und dann an einer Grippe erstickst. Aber muss ja nicht sein, vielleicht nur Panik. Die Türe öffnet sich, the Heat is on. Meine Lebensliebe hat mir in geografisch richtiger Reihenfolge alles aufgeschrieben, was wir brauchen. Eh nur noch die lebenswichtigsten Dinge, von denen wir noch nicht zu viel haben: Schinken, Käse, Sekt, Bier, Cola, Maoam, Schokolade, Puffoletti und Fleisch, wobei ich dabei wieder an die Augen des Bäckereifachverkäufers und der Rinder denke. Der Markt ist mittlerweile rammelvoll, ich stelle mich als einer der ersten bei der Kassa an und warte mit flacher Atmung 2 Minuten, die Brille vom Atem durch das verdammte Windeltuch beschlagen. Der Kassier hustet heftig. Und er schwitzt. Ich habe jetzt viel ferngesehen und wenn jemand wie ein Coronakranker aussieht, dann er. Diese ganze Scheiße, damit dieser arme Teufel jetzt meinen Schinken angreift? Niemals. Unter dem Vorwand, ich hätte etwas vergessen, der von einem jungen Mann mit einem Blick auf meinen Wagen mit den Worten “Glaubt man garnicht.” quittiert wird, hole ich noch feuchtes Klopapier (das Gold der Zukunft).

Ich bin dem jungen Mann nicht böse, er ist mir egal. Abgesehen davon bezahlt er gleich bei Kassa 1 und bekommt seine gerechte Strafe in Form einer Tröpfcheninfektion. Eine Durchsage, dass die nächste Kassa öffnet, scheint von Gott, so es einen gibt, direkt zu mir geschickt worden zu sein. Aber wenn es einen gibt, muss man die Idee hinter diesem Virus infrage stellen. Aber nicht jetzt, es geht ums Überleben, keine Fehler mehr. Ich stell mich bei der leeren Kassa 2 an, der Kasse für alle, die leben werden. Ich wundere mich, wie viel in so einen Wagen eigentlich reinpasst, bezahle so viel, wie ich noch nie bei BILLA bezahlt habe und vergesse nach 3 Sekunden, wie viel es war. Weil es wurscht ist. Ein letzter Blick in die traurigen Augen des Bäckereifachverkäufers, dann schiebe ich den vollgeräumten Einkaufswagen, der das Überleben und den gewohnten Blutzucker- und Alkoholspiegel von mir und meiner Familie weitere 2 Wochen absichern wird, über den Wirtschaftsweg zurück zum Gartentor, ziehe mir vorsichtig meine Ninja-Maske vom Mund und streife die Handschuhe ab. Kurz fühle ich mich wie Frodo am Schicksalsberg.

Es ist vorbei, es ist vollbracht. Dann denke ich mir, wie unfassbar surreal und deppert das alles gerade ist. Aber irgendwie mach ich es ja nicht für mich, sondern für Kurti, unseren 76jährigen Nachbarn. Für unsere Eltern. Und Großeltern. Und für die ganzen anderen Leute mit Krebs oder Autoimmunerkrankungen oder Herzproblemen. Weil ich den Scheiß vielleicht schon seit 10 Tagen verbreite. Und wenn ich nur ein Leben retten oder einen kranken Menschen vermeiden konnte, dann komm ich mir gern 10 Minuten wie ein Idiot vor.

PS: Wenn dieser ganze Mist vorbei ist, werde ich mich persönlich bei jedem BILLA Mitarbeiter meiner Filiale bedanken und ihnen etwas schenken. Das sind die echten Leistungsträger, Hut ab.

#coronavirus #billa #survival

 


 

Tagebuch der Apokalypse: Tag 3 oder 4.

Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Alles scheint wie ein ganz normaler Sonntagmorgen. Es ist Donnerstag. Es ist wurscht. Ich werde gegen 5.30 Uhr von Schmatzgeräuschen neben mir geweckt. Als ich die Augen öffne, sehe ich einen grinsenden Zweijährigen, der die linke Brust meiner Freundin bis zum Anschlag im Mund hat und nur ganz kurz absetzt, um mir mit einem „Guten Morgen! Konsti mag Brust! Super! Mmmhhh!“ seine Meinung zur Lage der Nation kundzutun, während er mit dem Zeigefinger über den anderen Nippel schnippt. Er furzt, und grinst. Glückseligkeit, solange Brüste, Spielzeug und Schokolade da sind. So war ich früher auch mal, als die Welt noch in Ordnung war. Letzte Woche. Und dann schleicht sich langsam wieder die Realität in den Kopf. Die Tatsache, dass man plötzlich in einer von Roland Emmerich inszenierten Folge Kaisermühlen-Blues lebt. Wir werden verdammt nochmal alle sterben. Vielleicht nicht jetzt unmittelbar, aber es wird dann doch wieder mal bewusst, dass es irgendwann passiert. Und das ist halt unbefriedigend. Aber Realität.

Wobei es ja eigentlich gerade zwei Realitäten gibt: Die Realität aus dem Fernsehen, draußen in der Todeszone, beim BILLA zum Beispiel, Kassa 1. Die Realität mit dem Tiroler Landesrat, der meinte, man hätte alles richtig gemacht. Wie auf der Costa Concordia oder im Russlandfeldzug. Alles richtig gemacht. Und dann gibt’s noch eine Realität, die geht ziemlich genau von der Eingangstüre bis zum Gartenzaun. Eine Realität, in der man zum 1504. Mal das Flughafenwimmelbuch anschaut und erklärt, warum sich der Ben am Klo anspeibt. Eine Realität mit so viel Süßigkeiten, dass ich eher an Diabetes verenden werde als an dem Virus. Oder Adipositas. Eine Realität mit genug Essen für vier Wochen. Und genug Klopapier für fünf. Was soll da noch schief gehen?

Katzenstreu, zum Beispiel. Katzenstreu kann schief gehen. Der Gedanke trifft mich wie eine Faust. Aus Katzenstreu. An alles hab ich gedacht, nur nicht an den Kot von Hern Schoitl. Wut. Vorwürfe. Angst. Der hustende Kassier erscheint in Gedanken vor mir und reibt sich diabolisch grinsend die Hände. Dann hustet er. Die Augen des Bäckereifachverkäufers. Sind vier Beutel Shah Excellence Premium Silikat Streu 8 Liter und der damit verbundene Ausflug zu Hofer das Leben von mir und meiner Familie wert? Es ist beileibe kein abwegiger Gedanke, dass ein Corona-Wirt gestern genau auf das Päckchen Shah Katzenstreu eine ausreichende Menge kontaminiertes Sekret ausgeworfen hat, welches ich berühren werde, um mir anschließend gedankenlos und oder unwillkürlich den Finger bis zum Anschlag ins Auge oder in die Nase zu stecken, weil es juckt. Risikoabwägung. Sollte der Stoffwechsel der Katze trotz Ausnahmezustands normal weiter funktionieren, kann ich diese vielleicht wichtigste Entscheidung meines Lebens noch eine Woche aufschieben. Bis dahin suche ich nach Alternativen. Mal schauen, ob Schoitl auf Basmatireis scheißt. Davon ist mehr als genug da.

Der Geisteszustand aller Familienmitglieder ist noch unauffällig. Oder „so wie vorher“ trifft es besser. Auch wenn mein Sohn gestern dachte, die Zimmerpflanze hätte ihn böse angesehen und bedroht. Er war komplett traumatisiert, „Das Blatt hat sich bewegt!!!“. Wir mussten sie dann schimpfen und ermahnen, sie solle es doch bitte unterlassen, gerade in Zeiten wie diesen. Zwei Stunden später hatte Konstantin wieder Angst. Und wir haben die Pflanze wieder geschimpft, diesmal mit Nachdruck. Kurz darauf der nächste Zwischenfall. Als Konsti nicht hingehört hat, hab ich der Pflanze dann gesagt, dass ich ihr jedes verdammte Blatt mit einem Feuerzeug bearbeite, wenn sie nicht mit der Scheiße aufhört. Dann war Ruhe.

Ich esse jetzt was Süßes.

#coronavirus #überleben #survivaltipps #quarantäne

 


 

Tagebuch der Apokalypse, Tag 7.

Die Welt hat geschlossen. Gut, aber aus. Stille. Ich empfinde innere Leere. Also außer Striezel und Marmelade und Champignonschnitzel und Torte und Sekt und Gummibärli. Der Geburtstag von Frau und Kind war eine willkommene Abwechslung im sich ewig wiederholenden Strudel aus Zeit im Bild, Wimmelbuch, Fressen, Händewaschen und Stuhlgang. Es ist wirklich furchtbar zuhause. Da muss mir ein Ausflug zur Donauinsel oder ein Grillfest mit Freunden im Park schon das Leben von ein paar Pensionisten wert sein, die ich deshalb vielleicht nächste Woche beim Einkaufen anstecke. Die sollen sich verdammt nochmal solidarisch mit den jungen Menschen zeigen, denen so fad ist in diesen schweren Tagen. #ErstickenGegenLangeweile.

Es ist aber auch wirklich alles furchtbar zuhause. Wenn wir in 50 Jahren unseren Enkeln von 2020 erzählen, vom großen Virus, von der Quarantäne, der Zeit der Entbehrungen, dem Leid. Wenn wir mahnen, dass sie überhaupt nicht wissen, was Not und Elend und Verzicht bedeutet, wie gut es ihnen geht. Dass wir diese Last damals ohne Murren geschultert haben. Dass es unsere Generation war, die die Welt von der Couch aus am Laufen gehalten – oder besser gesagt gerettet hat. Bei schönem Wetter, bitte! Wir waren die Trümmerfrauen des 21. Jahrhunderts! Wenn wir das alles erzählen, dann sagen wir von Bier, Kaffee, Schokolade, Gugelhupf, Netflix, Terrasse, Playstation, 65-Zoll-Schirm und Hängematte einfach nix. Es ist fast alles furchtbar zuhause.

Aber man hat zumindest Zeit für sinnvolle Dinge. Und nachdem ich in der Werbung arbeite, sind die meisten Dinge, die man jetzt so machen kann, sinnvoller als alles, was ich sonst so mache. Ich hab schon die Katze gebürstet, Staub gesaugt, Küche und Bad geputzt, Katzenklos gemacht (Danke, Jeff Bezos, mein Held), den Katzenbrunnen geputzt, die Kaffeemaschine entkalkt, das Mahlwerk gereinigt und Terrasse gekehrt. Dafür benötige ich normal drei Monate. Und dann gabs natürlich noch große Corona-Party, DJ Konsti durfte alle seine Lieblingslieder spielen. Halt scheiße, dass DJ Konsti nur ein Lieblingslied hat. Nach 2 Stunden Feliz Navidad in der Live-Version von Helene Fischer haben wir ihm offiziell die Verantwortung über die Musikauswahl ent- und anschließend zur Kalmierung mit seinem neuen BOSCH Akkubohrer noch die Schrauben bei Schoitl festgezogen. Katze und Kind sind unversehrt. Generell ist ein Zweijähriger mittlerweile mein wichtigster Gesprächspartner, deshalb führe ich dieses Tagebuch auch, um der deutschen Sprache in vollem Umfang mächtig zu bleiben. Ich ertappe mich immer öfter dabei, in der dritten Person zu reden. Oder Dinge zu sagen, die man in der alten Zeit für zu irrelevant erachtet hätte, um sie seinem Umfeld zu kommunizieren. Wie auch immer, der Michi hat gerade ein Butschi gmacht!

Für die Beziehung ist dieser Scheißvirus übrigens gesundend, wir leben in absoluter Harmonie. Das könnte aber natürlich auch am Umstand liegen, dass sich meine Lebensliebe der Todesgefahr jenseits der Eingangstüre und der damit verbundenen Sinnlosigkeit eines Fluchtversuchs bewusst ist – und der Tatsache, dass sie im Falle der ultimativen Eskalation im Kampf 1 gegen 1 keine Chance gegen mich hätte. Quasi eine Duldungsstarre aus Harmoniebedürfnis und Todesangst. Am Ende des Tages macht es keinen Unterschied. Es ist fast alles so furchtbar. Ich esse jetzt was Süßes.

#coronavirus #quarantäne #tagebuch #survival #grillüberlebt

 


 

Tagebuch der Apokalypse, Tag 12 – 28.3.20

Ich schreibe diese Zeilen auf der Toilette. Die Türe ist verriegelt. Stille. Man könnte ein Blatt Klopapier fallen hören. Und er könnte jeden Moment hier sein. Ich weiß nicht, ob er mich bemerkt hat. Er sucht mich. Und er wird nicht aufhören, bis er mich gefunden hat. Es steckt in ihm, es ist Instinkt. Die Natur hatte sieben Millionen Jahre Zeit, den perfekten Jäger zu entwickeln. Klein, wendig, schnell, Augen wie ein Habicht, ein Gehör wie ein Luchs, ein Nase wie ein Bluthund. Jede Faser meines Körpers ist angespannt, ich wage kaum, mich zu bewegen. Wage kaum, die nach einer Mischung aus karibischer Zitrusfrische und Herr Herrn Schoitls Kot riechende Luft zu atmen. Schritte kommen näher, über die Küche ins Bad. Ich spüre, wie die Angst langsam in mir hochkriecht , meine Gedanken lähmt, meine Kehle zuschnürt. Dann sehe ich den Schatten unter dem Türspalt größer werden. Ich höre, wie er mit seinem kleinen Hammer an der Wand entlang kratzt. Ich schlucke. Dann ein leises, psychopathisches Kichern. Und plötzlich brüllt er: „Der Papa ist da drinnen! Hallo Papa!“. Die Ruhe zerplatzt wie eine Seifenblase. Zehn Minuten Pause sind vorbei, zehn Minuten Erholung auf dem Klo, dem letzten Refugium, dem Hort der Besinnung und der Zitrusfrische, ein Quadratmeter Freiheit mit Blumendekorfliesen. Als ich die Spülung betätige und meine Hand auf die Türklinke lege, denke ich an Bibione 1990 zurück, den Tag der Heimfahrt. Ein letzter, tränenverschwommener Blick zum Meer, zum Sala Giochi, zum Trampolin, zur Pizzeria am Eck, während Mama die Wurstsemmeln für die Fahrt sortiert und Papa beim Luna Park vorbei zur Autobahn fährt. Ich spüre die letzten Sandkörner für lange Zeit in den Sandalen. Und dann hat dich der Alltag wieder. Und der besteht jetzt nun mal aus einem Virus, meinem Pyjama, viel Spaghetti, schlechten Nachrichten und einem Zweijährigen mit jeder Menge Tagesfreizeit.

Das ist aber auch gleichzeitig unfassbar großartig und wunderschön. Denn wenn dieser grindige Virus auch nur irgendwas Positives hat, dann ist es der Umstand, dass ich viel mehr Zeit mit Konsti verbringen kann. Ein knapp 82 cm großes Bündel Wahnsinn. Es fühlt sich ein bisschen so an, als hätte man ständig seinen besten Kumpel mit dabei – der sich allerdings benimmt, als hätte er Mischkonsum der übelsten Sorte betrieben. Er unterhält sich mit Pflanzen. Er läuft gegen die Wand. Er rülpst mir ins Gesicht. Er furzt verheerend, um diese Flatulenz anschließend ausgiebig zu zelebrieren. Er fasst meiner Freundin ständig an den Busen. Er kackt sich in die Hose, pinkelt sich an, schläft beim Fernsehen ein, isst Katzenstreu, sabbert ständig, steckt sich die Faust in den Mund, erstickt fast an einem Stück Karotte und legt Musik von Helene Fischer auf. Er spricht teilweise völlig wirres Zeug, wechselt unvermittelt die Gesprächsthemen, ignoriert mich von einem Moment auf den anderen hart oder bricht grundlos in Gelächter aus, wenn er mich ansieht. Oder die Türschnalle. Er hat Probleme mit dem Gleichgewicht, stolpert hindernislos über die eigenen Füße, klettert die ganze Zeit irgendwo rauf und nimmt generell jede sich bietende Möglichkeit wahr, furios auf die Schnauze zu fliegen. Was besonders suboptimal ist, weil die Notaufnahme vom SMZ Ost nach Bergamo der letzte Ort ist, den ich in den nächsten Tagen mit der Familie besuchen möchte.

Abgesehen von motorischen Ausfallerscheinungen hat er auch eine verdammt kurze Lunte. Wehe, man bringt das falsche Wimmelbuch. Oder schneidet das falsche Stück Apfel in falsch viele Teile der falschen Größe. Oder schmeißt die falsche tote Fliege vom falschen Fensterbrett in den falschen Müll, schaut falsch, bewegt die Hand falsch, greift etwas Falsches an, setzt sich auf den falschen Stuhl, gibt ihm den falschen Löffel oder dreht zur falschen Zeit das falsche Licht auf im falschen Zimmer auf. Gott bewahre, man serviert die Heidelbeeren in der gelben Schüssel, wenn Durchlaucht heute lieber vom türkisen Teller mit den Schafen gespeist hätte. Blutrausch. In diesen Situationen erinnert er mich dann an eine kleine Version von Joe Pesci. „Bist du blöd? Ob du blöd bist, verdammte Scheiße nochmal? Oder hältst du mich für blöd? Sehe ich wie ein Idiot aus? Sind hier Schafe drauf? Ist das ein verdammtes Schaf? Ob das ein Schaf ist, hab ich gefragt? Ach halt die Schnauze, es interessiert mich jetzt auch nicht mehr. Ich hasse Schafe. Ich hasse Heidelbeeren. Und ich hasse verdammt nochmal dumme Menschen. Geh mir aus den Augen!“. Er hat zwar die Vokabel noch nicht drauf, aber der Ton geht verdammt in diese Richtung. Zwei Minuten später allerdings folgt eine bipolare Phase, er umarmt mich ganz fest und gesteht mir seine unendliche Liebe. Und für diesen Moment kann man sich schon mal anbrüllen, anspeiben oder ein Plastikauto in die Fresse schießen lassen. Alles besser als Covid19.

Wobei ich aber überrascht feststellen muss, dass sehr viele Menschen sehr lange gebraucht haben, um die Dimension und Gefahr von dem, was hier gerade passiert, gänzlich zu erfassen. Oder das immer noch nicht tun. Auch, wenn vielleicht nur 15 % ins Krankenhaus, nur 6 % intubiert werden und nur 2 % sterben müssen: Die 15 % im Krankenhaus, die 6 % mit Schlauch im Hals und die 2 % ohne Puls finden es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotzdem scheiße. Ich würde es zumindest. In diesem Sinne zieh ich mir jetzt das Band meiner Pyjamahose stramm, richte mir Kragen und Scheitel, atme tief durch und gehe zurück auf die Couch, um die Welt zu retten. Und dann schau ich mir ein Wimmelbuch an und esse was Süßes.

#coronavirus #quarantäne #tagebuch #survival #grillüberlebt #stayhome

 


 

Tagebuch der Apokalypse, Tag 20 oder so – 6.4.2020

Ich wollte schon schreiben, dass es wenig zu schreiben gibt. Dass außer dem ewigen Kreis aus Stoffwechsel, E-Mails, Windeln und Nachrichten recht wenig passiert. Dass ich stundenlang durchs Fenster auf die Straße gestarrt und darauf gewartet habe, dass vielleicht einer von den unguten Nachbarn direkt vor unserem Haus mit dem Rad hinfliegt. Oder Streit mit einem gassigehenden Passanten beginnt, der seine Maske nicht richtig trägt. Vielleicht ein Polizeieinsatz. Hubschrauber. WEGA. Ein Hundekampf. Oder ein Parkschaden mit Fahrerflucht. Ich wollte schreiben, dass nichts von alldem passiert ist, dass die Stille in unserer heilen Hausarrest-Blase lediglich immer wieder von monotonem Rasenmähermotorbrummen untermalt wird. Ziemlich oft. Aus ziemlich allen Richtungen. Alle mähen. Wenn die Welt schon untergeht, dann ist wenigstens der Rasen schön. Ich hab dann auch gemäht, es schaut total nett aus jetzt. Jedenfalls wollte ich schreiben, dass es ist wie unsere kleine Farm, wie die zweite Staffel von Walking Dead: Harmonie, Gartenarbeit und Essen. Dass nichts passiert. Und dann passiert was.

Herr Schoitl wollte sich das Leben nehmen. Unser zart besaiteter feliner Freund ist als erstes Familienmitglied unter der Last von sozialer Isolation und Zukunftsängsten zerbrochen. Entweder das, oder er ist einfach nur zu blad. Beim gestrigen Nachmittagskaffee auf der Terrasse, bei dem wir übrigens – Stichwort „blad“ – zum 8. Tag in Folge einen halben Guglhupf gegessen haben, weil Konsti seine Liebe fürs Backen entdeckt hat, da fasste Schoitl den Entschluss, die morsche Nachbarsbirke zu erklimmen und auf einem etwa fingerdicken Ästchen am Wipfel ein Wendemanöver durchzuführen. Ein Knacken. Ein Mauzen. Unsere Blicke treffen sich. Die Zeit scheint stillzustehen. Es ist dieser so magische Moment, wenn man ganz genau weiß, dass gleich etwas richtig Blödes passiert und auch ganz genau weiß, dass man es, was man auch tut, nicht mehr ändern kann. Also schaut man einfach deppert. Die Zeit steht doch nicht still. Und Schoitl segelt graziös wie ein Karpfen mit flatternden Pfoten Richtung Wiese. Ein dumpfer Aufschlag. Eine unendlich lange Sekunde gar nichts. Und als wollte er den peinlichen Ausrutscher einfach gekonnt überspielen, geht er cool ein paar Schritte, legt sich in die Sonne und leckt sich den Hintern, um dann abzusetzen und mir diesen einzigartigen „Was ist?“-Blick zuzuwerfen, den dir eben nur Katzen zuwerfen, die sich gerade den Hintern lecken. Alles nochmal gut gegangen, ich esse Guglhupf.

Aber das war schon ganz schön aufregend, Wochenhighlight sozusagen! Zumal ich erstens keine Lust darauf gehabt hätte, mein oder das Leben meiner Familie bei einer Fahrt zur bestimmt völlig versuchten Tierarztpraxis zu riskieren, oder zweitens, fast noch weniger, den offenen Oberschenkelbruch meiner Katze mit Online-Tutorial und Keramikmesser am Couchtisch zu operieren, während Konsti im Hintergrund „Die Gedanken sind frei.“ mit Schweizerdeutschem Dialekt singt. Denn genau das macht er gerade in Dauerschleife. Und es ist meine Schuld. Um ihm zu zeigen, wie man eine Gitarre richtig hält, nämlich nicht darauf sitzend, haben wir ein paar Youtube-Videos geschaut – blöderweise halt genau jenes von einem Mädel aus der Schweiz. Nachdem es bei der Lektion um die Haltung des Instruments und nicht um die Aussprache ging, schenkte ich diesem Umstand keine weitere Aufmerksamkeit. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellen sollte. Denn jetzt schallt es eben rund um die Uhr „Die Gedonkchen sind frai“ durchs Haus. Und er sitzt dabei immer noch auf der Gitarre.

Verglichen mit den echten Problemen, die irgendwie nur im Internet oder von Erzählungen weit weg und jedenfalls jenseits unserer Haustüre existieren, ist das akustische Waterboarding eines Zweijährigen natürlich eine der erträglicheren Bürden, die einem in dieser so bizarren Zeit auferlegt werden können. Jetzt hat mir gerade ein Vogel auf den Rand des Laptops gekackt. Muss eh arbeiten, ich melde mich.

#coronavirus #quarantäne #tagebuch #survival #grillüberlebt #stayhome

 


 

Tagebuch der Apokalypse, Tag 32, 18.4.2020

32 Tage Zuhause. 32 Tage ohne Unterwäsche. 32 Tage im Tschernobyl unserer Generation. Obwohl das ja eigentlich nicht stimmt, weil ich 1986 schon vier Jahre alt war, weswegen es also schon das zweite Tschernobyl meiner Generation ist. Nimmt man 9/11 dazu, vielleicht noch Fukushima, ist es eigentlich das vierte Tschernobyl meiner Generation. Aber Japan ist zum Glück weit genug weg, dass es spätestens nach einem halben Jahr eh scheißegal war. Und die Baumärkte hatten damals auch geöffnet. Fasst man es vielleicht noch weiter, könnte man noch Deepwater Horizon vor zehn Jahren mitnehmen, und die Krise 2008. Dann wären es schon sechs Dinge tschernobylesker Auswirkungen in meiner Generation. Wenn man also so drüber nachdenkt, hat meine Generation offensichtlich ein Händchen für Katastrophen. Und jetzt gerade halt ganz besonders.

So oder so, 2020 wird nicht als übertrieben tolles Jahr in die Geschichtsbücher eingehen. Und wir befinden uns gerade noch mehr am Anfang als mittendrin. In der Pyjamahose. Das ist ein eigenartiger, bizarrer, unwirklicher Gedanke, irgendwie. Umso mehr, weil keiner von uns je mit sowas konfrontiert war oder auch nur daran dachte, je mit sowas konfrontiert zu sein. Dass niemand so richtig Ahnung zu haben scheint, wie es wirklich weitergehen wird, nämlich auch die nicht, die normalerweise immer Ahnung haben, beruhigt dabei nicht wirklich. Dass es aber noch viel schlimmer sein könnte, schon. Dazu reicht ein Blick in die USA, und dafür muss man irgendwie dankbar sein: Dass diese Krise mit aller Härte offenlegt, wie unfassbar hinüber dieses Land ist. Man stelle sich vor, wir würden von einer solariumgebräunten Mischung aus Richard Lugner, Frank Stronach, Helmut Werner und Adolf Hitler regiert werden. Auf einer Überdosis Koks. Trumps White-House-Briefings zuzusehen ist ein wenig so wie diese extrem bizarren Internetvideos mit Dingen, von denen man nicht dachte, dass irgendjemand irgendwo irgendwie warum auch immer wirklich auf die Idee kommen würde, das zu machen, es aber trotzdem tut. Vor einer Kamera. Nackt. Mit Hackfleisch eingerieben, drei großen, dänischen Doggen, einem Baseballschläger, einer Autobatterie und einem kleinwüchsigen Asiaten mit Plastikhandschuhen. Und einem Pferd. Egal. Jedenfalls kann man einfach nicht wegschauen und das nächste Video am nächsten Tag ist garantiert noch hinniger. Im Gegensatz dazu scheint der Waldviertler Bauernbub Sebastian wirklich wie die zweite Niederkunft Jesu.

Ich habe momentan sowieso andere Probleme, nämlich Konstantin den Unterschied zwischen „Du“ und „Ich“ zu erklären. Und wenn ich mir selbst dabei zuhöre, kann ich verstehen, dass er keinen Schimmer hat, wovon zum Teufel ich rede. Dann kommen nämlich Sätze wie „Wenn du „Ich“ sagst, bist du „Ich“. Ich bin Konstantin. Ich habe Hunger. Wenn du „Du“ sagst, dann meinst du mich. In diesem Fall bin „du“ dann „ich“, nämlich Papa. Ich ist Konstantin, wenn du es sagst. Du bist Papa. Also wenn du das sagst, nicht ich. Verstehst du?“. Er schaut mich dann immer ziemlich eigenartig an, wortlos. Und dann steht er einfach auf und geht, wortlos.

Auch konnte ich in der Zeit der Gefangenschaft hochinteressante Studien an Mensch und Tier im familiären Biotop durchführen – oder besser gesagt frappante Ähnlichkeiten in Verhaltensmustern fünfjähriger, kastrierter Kater und zweijähriger, unkastrierter Menschenbuben feststellen. Beide Spezies erschrecken beispielsweise, wenn man Lebensmittel, wie etwa ein Stück Schinken neben sie auf den Boden wirft. Beide freuen sich aber dann und essen den Schinken. Beide Spezies essen generell alles, was sie finden, sabbern, graben gerne in Katzenstreu und hören nur auf ihren Namen, wenn sie es gerade wollen. Oder ignorieren Rufe einfach. Beide schreien stundenlang, wenn sie Hunger haben, beide mögen keine Ärzte, beide schmeißen die ganze Zeit Sachen runter, beide haben eine Aufmerksamkeitsspanne von 12 Sekunden, beide laufen gegen die Fliegengittertüre bei der Terrasse, und beide können sich nicht entscheiden, ob ebendiese lieber zu oder offen sein soll. Abgesehen davon ist der Kot beider ein nicht unwesentlicher Bestandteil unseres Familienalltags. Dinge, die ich ohne Corona niemals gelernt, deren Wichtigkeit ich nicht zu schätzen gewusst hätte.

Zu schätzen weiß ich nun auch einen positiven Effekt dieser sonst so dunklen Epoche: Nämlich den Umstand, dass die Playstation wieder einen viel wichtigeren Stellenwert in meinem und im Leben meiner Freunde eingenommen hat, was aufgrund von Online-Gaming und Sprachkommunikation in Zeiten sozialer Vereinsamung einen unverzichtbaren sozialen Faktor darstellt. Denn nichts auf der Welt verbindet mehr, als gemeinsam mit Lebensmenschen wie StreetsOfLaredo, brutal1nsk1, Apelatus oder Alter_Schwede virtuelle Widersacher zu erschießen, zu überfahren, zu erdolchen oder mit C4 in die Luft zu jagen. Das ist ein Band, so stark wie eine Ehe.

Wie auch immer, Konsti steht jetzt neben mir und meint, dass du zur Rutsche gehen willst.

 


 

To be continued…