ADC*E Creative Express Review, Lars Schrage

Sextourismus und Casefilmdenke
ADC*E Creative Express in Riga, 17./18. Juli 2019

Zu sehen, dass viele motivierte Kreative in Europa werkeln macht mächtig Hoffnung. Heikle Themen fielen aber unter den Tisch. Ein absolut subjektiver Bericht vom ADC*E Creative Express aus Riga.

Im Glashaus über Riga sitzen wir. 32 Kreative aus 16 Ländern Europas arbeiten in neun Gruppen an einem Briefing. Das Glashaus nennen die Einwohner Rigas Castle of Light, in dem ihre Nationalbibliothek untergebracht ist. Eingeweiht haben die Riganer ihr großzügiges Bücherquartier mit einer Menschenkette und tausenden Büchern, die gemeinsam einsortiert wurden. Was die Mentalität der Menschen sonst ausmacht – darüber haben wohl alle Kreativen gerätselt. Das Briefing kam nämlich vom Tourismus Board der Stadt.

 

Wer Riga sucht, findet Sextourismus
Im Dunkeln tappend haben wohl alle die Suchmaschinen angeworfen, um herauszufinden, was die alte Hansestadt nun überhaupt besonders macht. Eine italienische Art Direktorin in meiner Gruppe stieß schließlich auf eine Überraschung: Riga hat überhaupt kein Problem mit der Zahl an Touristen. Nur mit der Art. Die Online-Archive von Zeitungen sind voll von Berichten, wonach die Menschen in Riga befürchten, die nächste Billig-Sex-Hauptstadt Europas zu werden. Ein selbst gedrehtes Video auf YouTube hat 1,6 Millionen Views. Eine Studentin hat den Sextourismus dokumentiert, ist ins Nachtleben getaucht. In Scharen kommen sie. Russen, Italiener, Briten. Where to go, fragt ein Taxler. Nice pussies, lautet die Antwort. Das Thema war unübersehbar. Es war überall. Und fast alle Gruppen haben es ignoriert.

 

Wir müssen einen Casefilm machen
Die spanische Art Direktorin aus meiner Gruppe arbeitet in einer großen Netzwerkagentur. Weil sie immer Casefilme aufbereitet, meint sie, dass wir auch hier einen Casefilm brauchen. Unsere Ideen mit dem Problem des Sextourismus zu arbeiten, die Sorgen der Einheimischen und die Arbeit des Stadt-Marketings sinnvoll zu verbinden – das alles fällt in einer angespannten Diskussion unter den Teppich. Es passt nicht in die Filtermentalität von „something big“, „nice“ und „geilem Gettymaterial“ für den Casefilm, den wir ja unbedingt brauchen, um alle zu beeindrucken.

Noch zwei Stunden zur bis zur Präse. Ich versuche meinen hundertsten Anlauf auf das Sprungbrett zurück zu kommen. Vergebens. Stress. Eskalation.

Mit meiner Ansicht, dass die Idee das wichtigste ist und wir sie auch mit handbemalten A3-Zetteln präsentieren können, bin ich ziemlich allein. Hoch über Riga, im Glashaus, ein paar Stunden bevor es wieder dunkel wird und die Touristen die Stadt beleben. Es sei doch auch gut, meint eine Teilnehmerin noch, wenn junge Kerle für Sex in die Stadt kommen. Die lassen doch Kohle da.

 

Fazit
Der Creative Express hat mir gezeigt, dass ich eher strategisch denke, in Richtung Gestaltung der Marke. Der Austausch mit den Mentorinnen und Kreativdirektorinnen – in der Mehrzahl übrigens Frauen – kam gleich konstruktiv oben drauf. Welche Kurse es gibt, Möglichkeiten, persönliche Erfahrungen aus ihren Lebenswegen – da habe ich extrem viel mitgenommen. Auch wenn wir in unserer Gruppe es nicht geschafft haben das heikle Thema konstruktiv umzuwandeln, diese Erfahrung ist mir im Nachhinein lieber als eine glatte Zusammenarbeit ohne Ecken. Die Kraft der Diskussion, die uns auseinandergebracht hat – ich glaube nach wie vor, dass es dieselbe Kraft ist, die zu einer kraftvollen Idee geführt hätte. Der Stadt Riga endlich einen Ruf zu verpassen. Was läge näher, als mit den eigenen Sorgen der Bevölkerung zu arbeiten. Riga zu der Stadt zu machen, die für Sexual Equality steht. Paris soll seine Liebe haben, Wien sein Schnitzel. Riga könnte uns die Gleichheit zeigen.

Der Gründer des Creative Express, H.P. Albrecht, hat einen zeitgemäßen, durch Europa fahrenden, kreativen Schmelztiegel geschaffen, den er sich selbst gar nicht einmal auf die Fahnen schreibt. Bewundernswert bescheiden. Er zeigt lieber auf die Flagge der Europäischen Union, die den Creative Express seit 2013 fördert und mitermöglicht. Seine Worte zur Eröffnung: „Das ist Europa. Und ich finde Europa ist die beste Idee, die Politiker in den letzten 500 Jahren hatten. Lebt es. Spürt es. Hier.“

 

Dem CCA und ADC*E bin ich sehr dankbar, daran teilgenommen haben zu dürfen.

Lars Schrage, CCA-Student of the Year 2019.